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"Do you read me, HAL?" – Odysseen durch visuelle und akustische Räume
Im unruhigen Klima der 1960er-Jahre legt Stanley Kubrick mit seinem Film 2001 — A Space Odyssey einen Meilenstein in der Filmgeschichte, für den er auf das zu seiner Zeit verlachte Genre des kommerziellen Science-Fiction-Films zurückgreift, sich zugleich jedoch subtil auf den frühen Film der 1910er- und 1920er-Jahre bezieht. Sein Werk beschäftigt ungemindert die Filmwissenschaft, weniger jedoch wegen seines im Titel angekündigten, diese Erwartung aber nur auf einer anderen Ebene erfüllenden Bezugs zur homerischen Odyssee, die Klassische Philologie. Diese Lücke füllt Katrin Dolle in ihrem Beitrag. Dabei ist 2001 alles andere als eine Adaption des homerischen Epos. Vielmehr ist Kubricks Ansatz, seine Art, den homerischen Quelltext sowie film- und architekturtheoretische Ansätze seiner Zeit und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verwenden, als geradezu (avant la lettre) ‚dekonstruktivistisch‘ zu bezeichnen. Dadurch gelingt es ihm, ein Kunstwerk zu schaffen, das zahllose Interpretationsansätze und metaphorisierende Deutungen nicht zuletzt mit Bezug auf die Gesellschaft seiner Zeit und der menschlichen Gesellschaft per se inspiriert hat und weiterhin inspiriert, wie es bereits das homerische Epos tat. Jede Gesellschaft wird insbesondere von der raumzeitlichen Kunst der Architektur, in der sie sich bewegt, von der sie abhängt und in der sie lebt, geprägt. Dies dürfte ein entscheidender Grund sein, weswegen Kubrick sie sich in all seinen Filmen äußerst bewusst zunutze macht. Indem Katrin Dolle daher dieses Kunstmittel der Architektur als tertium comparationis zwischen 2001 und der Odyssee zu Hilfe nimmt, arbeitet sie basierend auf Hans Holleins „Alles ist Architektur!“ (1966) die Ähnlichkeiten im Umgang mit Raum und Zeit im Film wie im Epos heraus. In einer durch zunehmende Datenverarbeitung und Kalten Krieg einerseits und Drogenkonsum sowie Friedenssehnsucht andererseits immer stärker geprägten Zeit, kombiniert Kubrick aus futuristischer, metabolistischer, High-Tech-, mobiler und brutalistischer, vorgeblich ‚wahrer‘ Architektur eine neue Monstrosität in der anhaltenden Odyssee der Menschheit: eine gottgleiche, aber doch lügende und damit menschliche lebendige Architektur, deren Eigenschaften in einem scheinbar statischen und emotionslosen Menschen reflektiert werden. Und doch lässt sich die Beziehung zwischen diesen beiden Antagonisten zweifellos nicht als schlichte Gleichung zwischen dem Bordcomputer HAL und Polyphem, bzw. Dave Bowman und Odysseus beschreiben. Vielmehr ‚de-struiert‘ Kubrick die homerischen Figuren – die Götter, allen voran Athena, Helios, Polyphem und Odysseus selbst – und ‚kon-struiert‘ sie zu der künstlichen Intelligenz HAL, die von Dave Bowman genutzt und gespiegelt wird, und die ihn umgekehrt prägt. Wie Homer dies im Zeitalter der griechischen Migration und Kolonisation mit dem Mythos bereits getan hat, ‚de-konstruiert‘ Kubrick das Bauwerk Odyssee wie das Denken über Technik, Konventionen und Menschheit.