Zitationsvorschlag

Polyphem und Odysseus: Gemalte Giganten und gigantomanische Künstler, in Dolle, Katrin und Dreiling, Semjon Aron (Hrsg.): Space Oddities: Die homerische Irrfahrt in Bildkünsten und Populärkultur 1800–2021 (Europa – USA – Südamerika), Heidelberg: arthistoricum.net-ART-Books, 2022, S. 291–338. https://doi.org/10.11588/arthistoricum.941.c12463

Identifier (Buch)

ISBN 978-3-98501-050-9 (PDF)
ISBN 978-3-98501-051-6 (Hardcover)

Veröffentlicht

13.04.2022

Autor/innen

Semjon Aron Dreiling

Polyphem und Odysseus: Gemalte Giganten und gigantomanische Künstler

Die belgische Nationalgründung 1830/31 und die damit einhergehenden kulturellen Umbrüche brachten der Romantik in Belgien einen erheblichen Aufschwung. Inhaltlich wurde die Historienmalerei 1830–1870 stark vereinnahmt durch die nationale Mythenbildung und den flämischen Patriotismus, der an der Ausprägung einer national-belgischen Kunst interessiert war. Klassische, gar homerische Sujets wurden nur recht zögerlich rezipiert. Stilistisch stand die Malerei dieser Zeit unter dem starken Einfluss des Klassizismus, der durch Jacques-Louis David (1748–1825), der von 1816 bis zu seinem Tod in Brüssel weilte, eine starke Prägung erfuhr. Als Gegenbewegung und in Anknüpfung an flämische Bildtraditionen formierte sich im Umkreis der Kunstakademie Antwerpen ein forcierter Rubenismus, dem auch der belgische Maler Antoine Wiertz (1806–1865) als eine Ausnahmefigur der belgischen Romantik und als wichtiger Vorläufer des Symbolismus angehörte und sich als ein Epigone Rubens’ betrachtete, den er 1840 nicht nur zum „größten Maler der Welt“, einen „Giganten der Kunst“, sondern gar zu einem „Homer der Malerei“ erklärte. Neben zahlreichen Anleihen an Homers Ilias verarbeitete Wiertz in seinem 1860 geschaffenen Gemälde Un grand de la terre, das Polyphemabenteuer aus der Odyssee. Wirksam sind in diesem monumentalen, neun Meter hohen Bild, dem Semjon Aron Dreiling erstmals eine umfängliche Einzelanalyse widmet, starke antifranzösische Ressentiments, denen zufolge das Napoleonische Frankreich als ebenso wild und gottlos wie die Kyklopen gilt, dem sich der größenmäßig unterlegene Odysseus mit innerer Stärke gewappnet entgegenstellt. Verstanden werden kann das riesenhafte Bild aber auch in Bezug auf den von Wiertz eingeforderten Befreiungsakt der modernen belgischen Malerei sowie – positiv gewendet – als eine aemulative Auseinandersetzung mit den Alten Meistern, die Wiertz als „zum Wettstreit aufgestellte Giganten“ bezeichnet. Vor allem bildet der Kampf (gemäß der im Umkreis des Künstlers virulenten kommunistischen Utopien) eine Phase der Menschheitsentwicklung, die einer progressiv-aufgeklärten Gesellschaft vorausgeht, ein anthropologisch-geistesgeschichtlicher Impetus, der sich überall im damals (v. a. von englischen und US-amerikanischen Besuchern) stark frequentierten Künstlerhaus und Musée Wiertz widerspiegelt.