Zitationsvorschlag

Becker, Marcus: Bewegtes Bildnis des jungen Dichters als alter Dichter als Odysseus: Albert Ehrensteins Kinodrama ’Der Tod Homers’ und der frühe Film zwischen Text- und Bildtradition, in Dolle, Katrin und Dreiling, Semjon Aron (Hrsg.): Space Oddities: Die homerische Irrfahrt in Bildkünsten und Populärkultur 1800–2021 (Europa – USA – Südamerika), Heidelberg: arthistoricum.net-ART-Books, 2022, S. 91–110. https://doi.org/10.11588/arthistoricum.941.c12452

Identifier (Buch)

ISBN 978-3-98501-050-9 (PDF)
ISBN 978-3-98501-051-6 (Hardcover)

Veröffentlicht

13.04.2022

Autor/innen

Marcus Becker

Bewegtes Bildnis des jungen Dichters als alter Dichter als Odysseus

Albert Ehrensteins Kinodrama 'Der Tod Homers' und der frühe Film zwischen Text- und Bildtradition

Mit frühen Filmadaptionen des homerischen Werks im Vergleich zu Eisensteins 1913 in Pinthus’ Kinobuch veröffentlichtem Der Tod Homers oder: das Martyrium eines Dichters setzt sich Marcus Becker in seinem Beitrag auseinander. 1913 lud Kurt Pinthus, früher intellektueller Kinoenthusiast und späterer Impressario des literarischen Expressionismus, Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Else Lasker-Schüler oder Max Brod ein, Filmszenarien bzw. Kinodramen zu verfassen. Pinthus’ Kinobuch fand seinen Kontext im filmhistorischen Übergang vom cinema of attractions zum narrativen Kino und offerierte Entwürfe für eine Vielzahl von sich herausbildenden Genres. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Antikfilme lieferte der künftig eminente Dichter Albert Ehrenstein eine Odyssee-Parodie, die, eingebettet u. a. in Odysseus- und Telemach-Episoden, den greisen Sänger als Rollenportrait des jungen Ehrenstein in 22 Bildern auf eine Reise durch die griechische Insel- und Poleis-Welt, zu sieben Leidensstationen von Smyrna bis Ios, schickt. Diese Fahrt dient jedoch nicht etwa gut traditionell der Suche und Rückkehr nach der homerischen Heimatstadt als vielmehr einer emigratorischen Fahndung nach einem angemessenen Bleibe- und Sterbeort. Ehrensteins virtueller Film ist à la Marinetti avantgardistischer Mord an den bildungsbürgerlichen Vätern, gewinnt seine Kraft aber nicht zuletzt aus der genauesten Kenntnis von Texttradition und philologischen Usancen (beginnend mit Prooemtesken Vor-Worten), vorkinematographischer Bildgeschichte („Griechen und Troer kämpfen in den bekannten malerischen Posen um den Leichnam Achills“) und den visuellen, szenographischen und dramaturgischen Möglichkeiten des frühen Films. Ehrensteins Kinodrama nahm bereits 1913 das Thema des vorliegenden Sammelbandes der „homerischen Irrfahrt“ wörtlich und lässt sich in Bezug setzen zu frühen filmischen Homer-Adaptionen wie etwa George Méliès’ L’Ile de Calypso ou Ulysse et le Géant Polyphème von 1905 oder der italienischen Produktion L’Odissea von 1911. Vor allem aber lieferte die Parodie noch vor dem Ersten Weltkrieg eine Propädeutik, die Odysseus in den Film als massenkulturelles Leitmedium der Moderne ein- und seine Reise durch die kinematographischen Bildwelten des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart antreten ließ.